Erfahrungsbericht von Lukas Irmler – 03.03.2018, Freising.
Im Dezember 2017 erzählte mir Pierre Chaufour von seiner Idee, eine Highline zwischen zwei eingefrorenen Wasserfällen spannen zu wollen. Entsetzt fragte ich sofort: „ Aber nicht nur im Eis verankert, oder???“. Doch genau das war der Plan. Mit verrückt klingenden Plänen kenne ich mich ja inzwischen aus. Vom Highlinen in einer Höhle, 500m unter der Erde, bis zum balancieren über einem immer noch aktiven Vulkankrater habe ich ja bereits viele Pläne realisiert, die eher an Wahnsinn erinnern. Aber eine über 400m lange Highline in mehr als 170m Höhe ausschließlich an gefrorenem Wasser zu befestigen klang selbst für mich äußerst verrück, um nicht zu sagen lebensmüde. Aller Vernunft zum Trotze war ich dann Ende Januar 2018 auf dem Weg nach Grenoble um diesem verrückten Plan von der ICE- LINE Leben einzuhauchen. Zusammen mit Pierre Chauffour, seinem Filmemacher Kollegen Julien Ferrandez & Pablo Signoret zogen wir los in das winterlich verschneite Tal an dessen Ende die ersehnten Eisfälle auf uns warteten. Unterstützt wurden wir dann noch durch Lucas Laporte, Nicolas Rebert und Theo Rafael, die am zweiten Tag zu uns stießen. Über 200kg Equipment und Essen mussten wir zum Fuße der Eisfälle transportieren. Seile, das Equipment zum Eisklettern, die gesamte Slackline Ausrüstung, Schlafsäcke und Isomatten, sowie ein paar Schaufeln und Spitzhacken. Letzteres brauchten wir um unsere Unterkunft für die
kommenden Tage zu bauen. Ein Iglu. Oder genauer gesagt eigentlich eine Schneehöhle. Diese gruben wir in den Ausläufer einer Lawine hinein und es dauerte beinahe drei Tag bis Sie groß genug war, sodass wir zu siebt darin schlafen konnten. Während dieser ersten drei Tage mussten wir natürlich auch die Eisfälle erklettern und Fixseile anbringen. Das Slackline Setup musste vorbereitet werden und wir transportierten es quer über das Tal vom einen Eisfall zum Fuße des Anderen, was bei dem meterhohen Schnee eine sehr mühsame und langwierige Prozedur wurde. Nach dem Erklettern der Eisfälle kam der wohl schwierigste und vor allem entscheidende Schritt. Das finden einer geeigneten Eisfläche um Verankerungen im Eis zu erzeugen, welche später unsere Slackline tragen sollten. Meine anfänglichen Zweifel über die Machbarkeit waren bis dahin lediglich auf einem theoretischen Level ausgeräumt worden. Überzeugt hatte mich Pierre letztendlich indem er mir exakt erklärte wie er sich die Verankerung vorstellte. Die Idee ist denkbar einfach, eine Sanduhr im Eis. Die Methode heißt nach dem Erfinder auch Abalakow-Eissanduhr, oder kurz Abalakow Schlinge. Um solche eine Verankerung im Eis zu schaffen bohrt man mit Hilfe einer besonders langen Eisschraube zwei schräge Löcher ins Eis, welche sich unter einem Winkel von etwa 60° treffen sollten. Ist dies geglückt, fädelt man ein Seil durch diesen Eiskanal und nach dem Verknoten der beiden Enden erhält man eine Schlinge, welche normalerweise zum Abseilen oder als Zwischensicherung beim Eisklettern genutzt wird. Im Vergleich zu Eisschrauben ist diese Art der Verankerung im Eis weniger anfällig für Druckschmelze und hält auch bei Sonneneinstrahlung länger stand. Somit schien es für uns eine bedeutend bessere Lösung zu sein, als die Slackline lediglich an Eisschrauben zu verankern. Pierre hatte überdies einige Tests gemacht und versucht mithilfe eines Flaschenzugs und einer Kranwaage zu ermitteln wie viel Last man einer einzelnen Abalakow Schlinge zumuten konnte. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Sie erreichten mehrere hundert Kilogramm Zuglast, ohne dass das Eis brach oder sich Ermüdungsrisse bildeten. Letztlich war die Festigkeit allerdings immer abhängig von der Güte des Eises selbst und dem Geschick die richtige Stelle im Eis auszuwählen. Das machte unser Unterfangen trotz der erfolgreichen Tests immer noch äußerst delikat. Wir bohrten insgesamt sechs Ablagow Schlingen pro Seite und versuchten mithilfe einer Ausgleichsverankerung die Last möglichst gleichmäßig auf alle sechs Ankerpunkte aufzuteilen. Als wir die Slackline befestigt hatten und das Spannen begannen waren wir alle extrem nervös. Wir kontrollierten alle paar Minuten das Eis auf Einschmelzungen und Rissbildung. Aber alles schien perfekt. Als sich die Slackline vom Talboden gehoben hatte
und annähernd horizontal in der Luft hing, waren wir relativ optimistisch, dass unser Plan aufgehen würde.Trotzdem wollten wir nicht zu lange warten. Je länger die Abalakow Schlingen unter Zug waren, desto höher das Risiko der Druckschmelze. Nachdem ich mich über Funk beim Team auf der anderen Seite überzeugt hatte, dass auch bei Ihnen alles perfekt aussah, war es an der Zeit loszulegen. In einer senkrechten Eiswand hängend seine Steigeisen und Schuhe auszuziehen hatte ich mir bei weitem nicht so mühsam und kompliziert vorgestellt. Es kostete mich mindestes zehn Minuten bis ich es geschafft hatte. Ich zog meine leichten Slackline Schuhe an und hängte den Kletterhelm zusammen mit einigem anderen Equipment zu den am Anker baumelnden Steigeisen. Dann zog ich mich am Grigi gesichert auf die Line und band mich in die Leash, das Slackline Sicherungsseil, ein. Ich trug immer noch die Skihose und mehrere Lagen Daune unter der Hardshell-Jacke. Ich fühlte mich ein bisschen wie ein Michelin Männchen und konnte trotz der dicken Kleidung bereits jetzt die Kälte an meinen Füßen und Händen spüren. Es waren -15° Celsius, mitten am Tage. Zum Glück war es so kalt! Die Kälte war unser Freund, denn so blieb das Eis an dem mein Leben hing weiterhin so stark und stabil. Auf der Line hingegen war die Kälte nicht so hilfreich. Ich fühlte mich steif und unbeweglich. Aber es würde vom Sitzen wohl kaum besser werden, also setzte ich den ersten Fuß aufs Band und stand auf. Wie eine Slackline sich verhält, wie sie schwingt und sich im Wind bewegt weiß man immer erst wenn man auf ihr steht, ein paar Schritte gegangen ist. Die ersten Schritte sind immer ein vortasten, ein Versuch die Bewegungsmuster zu verstehen und die Line möglichst ruhig zu halten um sein eigenes Gleichgewicht zu justieren. Ich hatte eigentlich gar nicht vor einen richtigen Versuch zu unternehmen, sondern wollte nur ein paar Schritte zu gehen, ein Gefühl für die Line aufzubauen um dann umzudrehen und zum Anker zurückzukehren. Ich war von dem stundenlangen Aufbau und dem hängen im Gurt müde und erschöpft. Außerdem fiel mir erst jetzt auf, dass das letzte Essen mein Frühstück gewesen war. Trotz dieser Handicaps lief es aber erstaunlich gut. Bevor ich überhaupt an ein Umkehren denken konnte war ich bereits gute 50m auf der Slackline gelaufen. Ich fand meinen Rhythmus und versank immer mehr in meinem Tunnel aus Fokus und Flow. Ein Schritt nach dem Anderen. Sachte an den Stellen wo das Backup Band um die Slackline verwickelt war um nicht auszurutschen und schneller wo ich einen stabilen Tritt auf dem Band fand. Erst als meine Arme und Schultern zu schmerzen begannen sah ich auf und bemerkte, dass ich wohl schon fast bis zur Mitte des Tales gelaufen war. Der Fluss, der am Talboden durch den Schnee floß, lag beinahe direkt unter mir. Ich dachte zurück an die Schinderei der letzten Tage, an das mühsame Ausziehen der Schuhe in der blanken
Eiswand und beschloss alles auf eine Karte zu setzten. Wenn nicht jetzt wann dann dachte ich und lief weiter. An der Stelle, wo wir zwei Slacklines verbunden hatten musste ich kurz stehen bleiben, da sich die Ringe meiner Leash an der Verbindung verhakt hatten. Ich musst einige Male an dem Seil ziehen, bis die Ringe sich lösten und ich weiter gehen konnte. Ein sanfter Wind war in der Mitte des Tales zu spüren. Er stabilisierte die Line, intensivierte allerdings auch die Kälte, die nadelartig in mein Gesicht stieß. Ich realisierte, dass die Line unter meinen Füßen sanft anzusteigen begann. Ich hatte also die Mitte überquert und näherte mich dem anderen Eisfall, der in der Sonne glitzerte. Der Eisfall an dem ich losgelaufen war, lag den ganzen Tage über im Schatten wohingegen der eingefrorene Wasserfall vor mir einige Stunden Sonne bekam. Mit jeden Schritt wurde die Line nun steiler und ich musste mich immer mehr nach Vorne lehnen um der Neigung der Line entgegenzuwirken. Ab und zu begannen meine Schuhe zu rutschen. Der sonst so griffige Gummi war starr gefroren durch die Kälte und hatte nur noch wenig Halt auf dem rutschigen Band. Ich musste vorsichtig laufen um nicht zu stürzen und konnte mich dennoch kaum zurückhalten schneller zu laufen. Der Eisfall war nun so nah, dass ich sehen konnte wie das Schmelzwasser über das blanke Eis rann. Sehr viel Wasser, wie ich fand. Ich konzentrierte mich wieder vollends auf meinen nächsten Schritt und nach weiteren 5 Minuten erreichte ich am ganzen Körper zitternd den Ankerpunkt der Slackline im Eis. Ich stieß einen Jubelschrei aus, in den meine Freunde am Rand einstimmten und setzte mich langsam auf dem letzten Meter der Line ab. Es war geschafft! So schnell wie möglich wollte ich runter von der Line. Auf einem kleinen Plateau aus Eis und Schnee stehend inspizierte ich die Ankerpunkte die nun seit geraumer Zeit der Sonne ausgesetzt waren. Das Eis war immer noch stabil und die Seile kaum in das tief gefrorene Eis eingeschmolzen. Pierre, der die ganze Zeit über an diesem Anker gewartet hatte sagte, dass das Eis immer noch in top Zustand sei. Dank der Kälte. Ich konnte also den Weg zurück wagen um dort den „Staffelstab“ an Pablo zu übergeben, der nach mir nun auch eine Begehung der 430m langen Highline wagen wollte. Auf dem Rückweg war ich wie eigentlich immer gelöst und entspannt. Trotz der Erschöpfung fand ich die Kraft für ein paar Spielereien. Ich setzte mich aufs Band, betrachtete das Tal und legte mich für einen Moment auf den Rücken. Sogar ein Schulterstand, bei dem man auf einer Schulter und den Händen balanciert, gelang mir. Durchströmt von adrenalin und Glücksgefühlen erreichte ich den Anker and dem ich vor mehr als einer Stunde meine Reise auf der Line begonnen hatte. Pablo erreichte im perfekten Moment den Anker und wir konnten uns in die Arme fallen. Ich übergab das
Sicherungsseil an Pablo und gab ihm noch ein paar Tipps für die Line auf den Weg, dann seilte ich ab. Auch Pablo gelang eine Sturzfreie Überquerung und im letzten Tageslicht seilte er am Eisfall ab. Unten waren wir Anderen bereits dabei das Abendessen im Iglu vorzubereiten und als Pablo zu uns stieß, schloßen wir uns in die Arme und feierten die erfolgreichen Begehungen gemeinsam! Wieder einmal ist aus einer anfänglich wahnsinnigen Idee eine wirklich atemberaubende Erinnerung geworden, welche ich nicht missen möchte.